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Die Bushaltestelle in der zweiten Etage

Ein Tag im Jerichower Land und in Zerbst/Anhalt

Die Bushaltestelle in der zweiten Etage

Zwei alte Lederkoffer stehen an der Bushaltestelle. Die dazugehörige Bank befindet sich nicht an der Landstraße, sondern im Flur der zweiten Etage des Seniorenheims Friedensau im Jerichower Land. „Manchmal ist es die Sehnsucht nach einem Erlebnis aus alten Zeiten oder die Erinnerung an die frühere Heimat, die einen Menschen im reifen Alter zu dieser Bushaltestelle führt“, erklärt René Lindstädt. Der Pflegedienstleiter ist der Vorgesetzte von 69 Mitarbeitern, die sich rund um die Uhr um die 122 pflegebedürftigen Bewohner kümmern: „Diese Menschen haben hier ein ruhiges Zuhause, umgeben von den Wiesen und Wäldern der Friedensauer Natur.“  Die Gemeinschaft auf der zweiten Etage mit der Bushaltestelle im Flur besteht aus 43 älteren Menschen, die allesamt Einzelzimmer bezogen haben. Das Besondere hier: Die meisten Bewohner haben Einschränkungen aus dem Demenz-Bereich, die ihren Alltag spürbar einschränken. Da ist die Bushaltestelle eine von mehreren Komponenten, die das Leben der Bewohner auch geistig barrierefrei gestalten. Fachleute sprechen von Validation, also von Umgangstechniken bei der Arbeit mit dementen Menschen. Noch sehr viel wichtiger für die Bewohner sind die Leute, die sie Tag für Tag durch den Alltag begleiten. An der Spitze der Mitarbeiter steht Wohnbereichsleiterin Silvia Goldstein. Ihre Philosophie: „Wir reden unsere Bewohner grundsätzlich mit Du an. Da entsteht eine ganz andere Bindung.“ Ihre Mitarbeiter charakterisieren die Chefin als „konsequent, aber sehr lieb“. Kerstin Rieckmann meint: „Wir harmonieren perfekt mit Silvia und ihren Pflegern, wir sind auch bei den Dienstbesprechungen dabei.“ Wenn Kerstin Rieckmann von „Wir“ spricht, meint sie die drei Mitarbeiter des Sozialen Dienstes, die nicht nur Zeitung lesen mit den Bewohnern: „Wir nutzen die gesamte Betreuungspalette, gehen auf die individuellen Bedürfnisse ein. Unter anderem schulen wir die kognitiven Fähigkeiten unserer Bewohner oder bilden einen musikalischen Rahmen während der Beschäftigung.“ Zur Abteilung Sozialer Dienst gehören auch die Alpakas aus dem Gehege gleich hinter der Wohnanlage. Nur wenige Schritte entfernt befindet sich das Therapiebecken mit Wellness- und Sportbereich: „Das Areal wird sowohl von den Bewohnern als auch von den Mitarbeitern genutzt“, sagt René Lindstädt.

Ein Tag im Jerichower Land und in Zerbst/Anhalt

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Wichtig: Altenpfleger müssen auch zuhören können. Fotos: Falk Heidel
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Bewohner und Mitarbeiter treffen sich an der Bushaltestelle in der zweiten Etage.

Das Team von Wohnbereichsleiterin Silvia Goldstein besteht aus Altenpflegerinnen, Krankenschwestern und Pflegehelfern wie Waltraud Simmon. Die 66-jährige Ruheständlerin aus Hohenziatz (ein Dörfchen ganz in der Nähe) unterstützt die Fachleute auf 450-Euro-Basis: „Klingt komisch, aber die Arbeit im Seniorenheim hält mich jung.“ Die gelernte Obstbau-Facharbeiterin ist im Pflegebereich eine Spätberufene: „Jahrelang habe ich meine Mutti gepflegt, dabei erste Erfahrungen gesammelt und gemerkt, dass mir das liegt.“ Sie schätzt vor allem das nette Kollegium. Dazu gehört Mandy Dommert (30). Die Burgerin arbeitet seit drei Jahren in Friedensau und sagt: „Ich würde auch für sehr viel Geld nirgendwo anders hingehen. Wir sind ein tolles Team, die Abläufe funktionieren reibungslos.“

Zu den vier Praxisanleiterinnen im Hause gehört Diane Hofrichter (26). Ein Teil ihres Jobs ist die Arbeit beziehungsweise die Ausbildung der aktuell acht Lehrlinge im Hause. Von ihrer Erfahrung profitieren auch mitarbeitende Studenten wie Anna Maria Brandenburg (21), die in Magdeburg „Gesundheitsförderung und –management“ (5. Semester) studiert: „Im Gegensatz zu einem Job an der Supermarktkasse gibt mir die Arbeit hier mit den Menschen sehr viel zurück – da entstehen Bindungen zu den Bewohnern.“ An der benachbarten Friedensauer Hochschule studiert Haniphar aus Tansania. Die junge Frau ist seit einem Jahr im Land, finanziert mit dem Job im Seniorenheim ihr Studium. Ihr Ziel: „Nach drei Jahren werde ich zurückkehren und in meiner Heimat mit Kindern und alten Menschen arbeiten.“ Für sie hat die Arbeit im Heim noch einen zweiten Effekt: „Ich lerne die deutsche Sprachen im Alltag.“

Um 6 Uhr beginnt der Tag auf der Station 2 des Pflegeheims mit Waschen, Frühstück und allem was dazugehört. „Wir beziehen die Biografie unserer Bewohner in unsere Arbeit mit ein“, erklärt Kerstin Rieckmann. Der Landwirt hat andere Prioritäten als eine Lehrerin. Unter anderem arbeiten die Altenpfleger aus der Demenzstation mit Bildern an den Eingangstüren, die den Bewohnern helfen, ihre Zimmer zu finden. Einem Senior hilft das Foto seiner früheren Katze an der Tür, einem anderem das Bild eines Fahrrads. Und wer für einen Moment die Orientierung verloren hat, nimmt häufig an der Bushaltestelle neben den alten Lederkoffern Platz. Was dann zu tun ist, wissen Silvia Goldstein und ihre Kolleginnen aus der zweiten Etage.